Die Frage nach der Langlebigkeit von Gebäuden ist in der Architektur im Rahmen der Diskussionen über Nachhaltigkeit in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus gerückt. Das Nachdenken in der Baubranche über Umweltbewusstsein wird mittlerweile nicht mehr auf das Anwenden von Technologie reduziert, sondern es wird vermehrt über den Einsatz von nachwachsenden oder wiederverwertbaren Materialien und das Recycling bereits verbauter Rohstoffe – das sogenannte Urban Mining – diskutiert. Die Auseinandersetzung mit bestehender Bausubstanz und ihrer Rohstoffquellen bildet hier einen wichtigen Aspekt in der Architektur und kann einen Entwurf wesentlich motivieren.
Gegenstand der Betrachtung dieser Masterarbeit ist die architektonische Struktur einer Bauruine aus den 1970er-Jahren, die aufgrund fehlender wirtschaftlicher Mittel nie über den Rohbau hinaus fertiggestellt wurde. Es handelt sich hierbei um eine Struktur für ein Kurbad, deren intendierte Funktion in ihrer weiteren Betrachtung im Rahmen dieser Arbeit eine geringe Rolle spielen wird. Vielmehr geht es darum, anhand der Struktur multiple Entwurfsszenarien zu entwickeln, die strukturell in Verbindung mit dem bereits errichteten Rohbau stehen, aber unabhängige multifunktionale Nutzungen ermöglichen sollen. Zwischen Mono-, Multifunktionalität und Funktionsneutralität wird untersucht, welches Potenzial in der Auseinandersetzung mit bestehenden, verloren geglaubten Strukturen, für die Architektur steckt – nicht nur in Hinblick auf Nachhaltigkeit, sondern auch auf den kulturellen Wert der bestehenden Strukturen. Die Arbeit basiert auf der Grundannahme, dass die Erinnerung an bereits durchlaufene Lebenszyklen bestehender Gebäude zur Stärkung der Identität dieser Strukturen beiträgt. Die Benutzer:innen können durch eine Auseinandersetzung mit vorherigen Nutzungen und deren kontinuierlicher Veränderung dazu motiviert werden, sich mit bestehenden Gebäuden eingehend zu beschäftigen. Nach der Meinung der Autorin dieser Arbeit formt dies einen Grundstein für eine nachhaltige Architektur.
Aspekte wie Geschichte, Erinnerung und Identität aus Aldo Rossis Architektur der Stadt bilden die theoretische Grundlage dieser Arbeit, wie auch der aus einem sozialen Gedanken heraus entstandene Entwurfsansatz der Strukturalist:innen der 1960er und -70er Jahre. Ihr Ziel war es, generische Strukturen zu entwerfen, die den Benutzer:innen frei zur Aneignung zur Verfügung stehen und im Laufe der Zeit für unterschiedliche Zwecke genutzt werden können. Im Sinne der aktuellen Relevanz von Nachhaltigkeit in der Architektur liefert ein solcher Ansatz eine interessante Diskussionsbasis – womöglich könnte dieser sogar als Recycling architektonischer Strukturen verstanden werden, da sie durch das Schichten von Erinnerungen an kulturellen und gesellschaftlichen Mehrwert dazugewinnen? Gebäude, die seit vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten Bestand und mehrere Nutzungszyklen durchlaufen haben, liefern dafür den Beweis.