Die neue Kleinwohnungsfrage • Untersuchung der Kleinwohnungsarchitektur in zwei österreichischen Städten

Tobias Gruber
2020 -
Dissertation

Dissertation Tobias Gruber

 

Neunzig Prozent der Gebäude in Europa, Österreich und Graz besitzen eine Wohnnutzung. Bereits die Hälfte dieser Wohnungen sind Einpersonenhaushalte. Demografische Prognosen weisen auf einen stetigen Anstieg des „Singlewohnens“ hin und bringen die Kleinwohnung als Typus seit einigen Jahren zurück auf den Plan von Wohnbauentwickler:innen.

Eine adäquate Reaktion auf sich ändernde Lebensmodelle, Leistbarkeit und einen geringeren Ressourcenverbrauch durch die Reduktion der persönlichen Wohnfläche versprechen sich Befürworter der Kleinwohnungen, Einschränkung des Lebensstandards, Spekulation der Immobilienwirtschaft und verstärkten Einsatz von aufwendigen Bauteilen und Infrastruktur sehen Gegenstimmen in den aktuellen Kleinwohnungstendenzen.

Die Kleinwohnungsfrage traf in ihrer ambivalenten Entwicklungsgeschichte vielfach neuralgische Punkte des Wohnens. Während die Entstehung von Kleinwohnungen in den Mietskasernen der industriellen Arbeiterstädte des 18. und 19. Jahrhunderts durch Überbelegung und das Fehlen von hygienischen Einrichtungen zu Massenelend führte, förderten Kleinwohnungen als Teileinheiten von Reformwohnmodellen ausgehend vom späten 19. Jahrhundert Eigenständigkeit und Emanzipation junger Erwachsener – insbesondere von Frauen. Während sich der Wohnungsmarkt in den Nachkriegsjahrzehnten des 2. Weltkriegs unter der Leitidee der autogerechten Stadt in Form von Vorstadt und Kernfamilie vom Modell der Kleinwohnung distanzierte, ist sie seit der Renaissance des städtischen Wohnens in den 1980er Jahren wieder in den Fokus gerückt. Heute werden Kleinwohnungen in einer Bandbreite zwischen temporärer Notunterkunft und multifunktionalem Urbanist:innentraum unter diversen Voraussetzungen geplant und bewohnt.
 
Von ihrer gesellschaftspolitischen Brisanz abgesehen, befeuert die Kleinwohnung seit ihrer Entstehung bei Architektinnen und Architekten ein fortwährendes Nachdenken über das „Wesentliche“, die originären und notwendigen Funktionen des Wohnens, die Grenzen von Privat und Öffentlich, Möglichkeiten und Qualitäten von Grundrissen, Räumen, Möbeln und Materialien.

Trotz der Masse neuerrichteter Kleinwohnungen unter diversen Bezeichnungen wie Ein- bis Zweiraumwohnung, Mini-Apartment, Micro-Flat, Garçonnière etc. – scheint die Bandbreite zum Thema Kleinwohnen am Wohnungsmarkt begrenzt und an feste Parameter gebunden. Welche sind die Rahmenbedingungen für die vorherrschenden Modelle und Grundrisse, wie werden die von PlanerInnen entwickelten Grundrisslösungen tatsächlich bewohnt? 

Die Arbeit lotet anhand einer architekturhistorischer Literaturrecherche sowie der Untersuchung einer repräsentativen Anzahl von aktuellen Fallbeispielen in zwei österreichischen Städten die Potenziale und Grenzen der Kleinwohnung aus, um praxisdienliche Erkenntnisse als Grundlage für Lehre und Forschung, sowie Planungs- und Bauwesen zu gewinnen.

 

Abb.: Antonello da Messina: Der heilige Hieronymus im Gehäuse, Öl auf Holz, 1474, National Gallery London, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_heilige_Hieronymus_im_Geh%C3%A4use_(Antonello_da_
Messina)#/media/Datei:Antonello_da_Messina_-_St_Jerome_in_his_study_-_National_Gallery_London.jpg (Stand 07.01.2020)